Erzpriester Alexander Schmemann (1921 - 1983)

Sergij Bulgakow

1871 - 1944

Bilder einer geheiligten Persönlichkeit

"Fremd unter den Seinen, treu sich selbst unter den Fremden..." Vater S. Bulgakow, "Autobiographische Notizen"

(Auszug aus: Stimme der Orthodoxie, 1/1998) "...Wenn ich über Vater Sergij nachdenke, kommen mir vor allem drei Bilder in den Sinn. Ich habe ihn oft und viele Jahre hindurch gesehen, und jedesmal, wenn ich mich an ihn erinnere, treten gerade diese drei Profile mit überraschender Lebendigkeit vor mein geistiges Auge.

Die erste Erinnerung geht noch zurück in die Zeit vor meinem Stu- dium am Pariser Theologischen Institut. Fast noch ein Knabe, Schüler des französischen Lyzeums, fuhr ich häufig in die Sergius-Niederlassung. Es war die Zeit der Vorliebe für monastische Got- tesdienste, für die strengen Weisen, für alles "Schöne", das "nicht von dieser Welt ist", aber so leicht jugendliche Fantasie fesselt und in jenen Jahren in der Niederlassung dank dem wirklich großar- tigen, inzwischen verstorbenen "Vorsänger" M. M. Ossorgin, zur Blüte kam.

Church Saint Serge, Paris, Watercoulor by Elisabeth Masset


In meiner Erinnerung wird lebendig, wie ich an einem regnerischen Herbstabend von der Metro Station zum Abendgottesdienst unter- wegs war auf der lärmerfüllten und so ganz und gar proletarischen Krimer Straße. Erleichtete Cafés, Läden, die vom Tagewerk heim- kehrenden  arme Leute, Rufe der Händler und Neon-Licht, das auf die nassen Bürgersteige ein diffuses Licht warf. Mitten in der Menge der drängenden Gestalten erblickte ich plötzlich langsamen Schrit- tes Vater Sergij, in tiefes Nachdenken versunken, kaum Notiz neh- mend von seiner Umgebung, mit schwarzem Priesterhut, bechei- denem Priesterkittel und dem Kreuz. Die langen grauen Haare fielen ihm über seine Schultern herab... Ich bin nicht zu ihm gegangen, habe nicht gegrüßt, kein Gespräch mit ihm begonnen. Selbst viel später noch schien es mir unmöglich, beinahe unanständig, ihn zu stören, sein Interesse auf mich zu lenken, weg von den Höhen, in denen er für mich unzweifelhaft zu Hause war. Damals, an jenem Abend, bin ich mit ihm bekannt geworden und wußte nur wenig von ihm. Ich erkannte, daß ihn etwas sehr Berühmtes, Bemer- kenswertes, Unzugängliches umwehte. Sehen aber konnte ich nur einen russischen Priester, einer einen Dorfgeistlichen. Ich glaube, gerade dieser Kontrast zwischen dem, was ich dunkel von ihm wußte: großer Denker, ehemaliger Marxist, Mittelpunkt der schärf- sten Polemiken und angespannter Debatten, und dem, was ich sah, überraschte mich im Unterbewußtsein. Denn darum ging es, daß je mehr ich Vater Sergij kennenlernte, umso klarer verstand, daß dieses Gesicht durchaus nicht zufällig, sondern vielmehr ein orga- nischer Ausdruck seines tiefsten Wesens war. Vater Sergij sich vor- zustellen in "synodaler" Pracht, - sagen wir mit der Mitra oder ir- gend- einem "Schmuckkreuz" -war unmöglich ebenso im pla- stisch-sakralen Profil byzantinischer Fassung oder - und das ist vielleicht das Wichtigste - ausgestattet mit etwas Eigenem, Sonderlichen, Individuellen, das seine Besonderheit und Excklusivität unter- strichen und ausgedrückt hätte. Es war nicht möglich kraft einer besonderen Demut Vater Sergijs, seiner Gleichgültigkeit gegenüber dem Äußeren, gegen Auszeichnungen usw. Der äußeren Erschei- nung  maß er zweifellos große Bedeutung bei, und ebenso unzweifel- haft kannte er seinen Platz. Nein, es war tatsächlich sein Bild, er selbst; was sich tief einprägte - und das in einer Epoche des Stilver- falls, da viele in der Kirche, weil sie keinen eigenen Stil ge- funden haben oder hatten, in die "Stilisierung" abzugleiten begannen...

(Nestorow: Pawel Florenskij mit Sergij Bulgakow)

Die zweite Erinnerung hat sich in mein Gedächtnis für immer tief eingegraben und wiederum, wie ich meine, nicht von ungefähr: Nachtwache zum Palmsonntag in der Sergius-Niederlassung (Paris). Ein langer, feierlicher bischöflicher Gottesdienst mit vielen Geist- lichen, dem Gesang zweier Chöre, einer immer besser als der ande- re, und dem Vorsingen der Sticheren "durch den Kanonarchen", so daß buchstäblich jedes Wort der wunderbaren Hymnen an diesem Feste zum Herzen "vordringen" konnte. Viele Stunden lang dauerte diese Wache und schon erreichte sie jenen Augenblick, der den mit dem kirchlichen Geschehen vertrauten Menchen so bekannt ist, wo die Grenze der Müdigkeit überschritten wird, das Zeitgefühl schwin- det, man noch weitere Stunden stehen könnte, ohne dessen einge- denk zu sein. Es beginnt der Gesang der Lobpsalmen, dieses feier- lichen Schlußakkords in jedem Morgengottesdienst vor einem Fest. Es öffnen sich die Königspforten und zwei Personen schreiten in die Mitte der Kirche und beginnen langsam und artikuliert zu lesen "Sechs Tage vor Ostern kam Jesus nach Bethanien, und: Seine Jün- ger traten zu Ihm, die sprachen: "Herr, wo willst Du Dir das Oster- lamm bereiten lassen"; Er sandte sie in den nahegelegenen Flek- ken..." Und nun wird mir, für mein ganzes Leben das Antlitz, genau- er gesagt, die Gestalt Vater Sergijs, im Sinn bleiben. Zufällig fiel mein Blick auf  ihn, da ich in seiner Nähe stand. Nie werde ich die in stiller Begeisterung leuchtenden Augen, die Tränen und die nach vorn und oben gerichtete Haltung vergessen, ganz so, als ob es in den "nahegelegenen Flecken" ginge, wo Christus das letzte Oster- lamm mit Seinen Jüngern zurichten ließ...

Erzpriester Alexander, Frau Juliana und Nobelpreisträger Alexander Solschenitzyn

Göttl. Liturgie, Alexander Newski Kathedrale, Paris, Rue Darú, mit Erzbischof Gabriel

...Vater Sergij lebte tatsächlich in der Erwartung des Herrn, er trat nicht nur bewußt, sondern geradezu fröhlich und froh vor den Tod, für ihn erstrahlte alles in diesem Leben bereits im Lichte des künftigen Reiches. Und Palmsonntag erlebte er gerade deswegen so, weil für ihn (wie auch für die Kirche) es ein eschatologisches Fest war, ein Fanal in dieser Welt, eine "Versicherung" des ewigen Reiches Gottes auf der Erde... "Diese Reichsherrlichkeit", schrieb er, "ging rasch zu Ende, ähnlich wie auch der Glanz auf dem Tabor bald schon erlosch und danach die Leidenswoche Christi begann. Der Einzug des Herrn in Jerusalem erscheint lediglich als eine bedeutsames Vorgeschehen künftiger Ereignisse, die nach dem Leiden und der Auferstehung folgen. Doch nicht die ganze Fülle der uns in Christus gechenkten Epiphanie Gottes würde sich vollziehen, wenn auf der Erde der Glanz Seiner Herrlichkeit nicht in der Verklärung aufgeleuchtet und die Erscheinung Seines Reiches nicht seinen königlichen Einzug angezeigt worden wäre. Der letzte war eine Prophetie des Künftigen..." (Lamm Gottes, S. 444)...

Göttliche Liturgie im Institut Saint Serge, Paris, der Wirkungsstätte Bulgakows

Die dritte Erinneriúng an Vater Sergij, sein drittes Bild, bezieht sich nicht so sehr auf einen Augenblick, nicht auf eine denkwürdige Begegnung. Es ist die Erinnerung an ihn am Altar während der Feier der Liturgie. Wegen seiner Krankheit und seines Stimmenverlustes diente er in den letzten Jahren nur noch in den zeitigen Liturgien. Er amtierte wegen des Apparates, der seinen Kehlkopf ersetzt hatte, in sehr leichten Gewändern. Was ist mir dabei so erinnerungswür- dig? Ich meine - nicht "die Schönheit" seines Dienstes, weil, ver- steht man unter Schönheit das Rhythmische und Gleichmäßige der Bewegungen, die gewollte Feierlichkeit, "das liturgische Können", Vater Sergij geradezu "unschön" zelebrierte. Richtig zu räuschern hat er nie gelernt. In allen seinen Bewegungen war etwas Kantiges und Ungestümes, Nicht-Abgerundetes und Unrhythmisches. Da es sich um seinen Dienst handelt, darf man den ungefügen und schwergewichtigen kirchenslavischen Ausdruck nicht übersehen. Im Vollzug seines Dienstes hat Vater Sergij tatsächlich liturgisiert. Da war etwas Ursprüngliches und Elementares in seinem Auftreten bei aller Eckigkeit und Ungestümheit, etwas von einem antiken Priester oder alttestamentlichen Hohenpriester. Er vollzog nicht den traditionellen Ritus in allen seinen Einzelheiten. Er ging viel- mehr völlig in ihm auf; so entstand der Eindruck, die Liturgie werden zum ersten Male gehalten, falle vom Himmel herab und hebe sich von der Erde wieder empor. Brot und Kelch auf dem Al- tar, das Licht der Kerzen, der Weihrauch und die zum Himmel er- hobenen Hände: all das war nicht einfach "Dienst". Hier geschah etwas mit dem ganzen All, was schon vor der Zeit und dem Raum war, etwas "Schreckliches und Herrliches" in der kirchenslavischen Bedeutung dieser liturgischen Worte. Und wohl nicht zufällig sind die Schriften von Vater Sergij so häufig befrachtet und gewis- sermaßen beschwert durch liturgische Slavismen, die oft den Klang liturgischen Lobpreises annehmen. Das kann nicht als Stilisierung verbucht werden. Denn die Theologie Vater Sergijs ist ih ihrer letzten Tiefe gerade und vor allen Dingen "liturgisch" - Enthüllung einer im Gottesdienst vermittelten Erfahrung. Weitergabe jener geheimnisvollen "Herrlichkeit", die ihn durchdringt, "Mysterium" , in  dem er wurzelt und dessen "Epiphanie" er ist, Erscheinung Got- tes, aber deshalb auch der Welt ihn ihrer göttlichen Ursprüng- lichkeit, göttliche Wurzel der Schöpfung, dazu bestimmt, daß Gott sie erfüllt und "alles in allem" wird. So deutet es mich (doch was läßt sich hier schon "wissenschaftlich" beweisen?), daß die Realität, die Unzweifelhaftigkeit dieser liturgischen Erfahrung, des Primären im Leben Vater Sergij, ihn gewissermaßen auf die Suche nach neu- en Worten und Definitionen "stieß", daß hier, und nicht unter dem Einfluß von Büchern oder Ideen, die wahre Quelle des "Sophianer- tums" fließt...